Der Friedensnobelpreis geht an… ICAN!

von: Anne Balzer

Sommer 2017: Ich habe seit einigen Monaten einen kleinen Nebenjob bei ICAN Deutschland. Gemeinsam mit Sascha Hach betreue ich einen Runden Tisch zum zivilgesellschaftlichen Austausch zu nuklearer Abrüstung in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Der damalige Referatsleiter für Außen- und Sicherheitspolitik, Gregor Enste, moderiert die Veranstaltung und fragt die Vertreterin des Auswärtigen Amts:  „Was machen Sie, wenn diese Initiative im Herbst mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird und Sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen?“

Ich bin verwirrt. Friedensnobelpreis ist für mich Nelson Mandela und Barack Obama, Malala Yousafazai oder Kofi Annan. Ich wende mich an Sascha: Friedensnobelpreis? Wovon redet er? Sascha schüttelt den Kopf: „Ja, da werden wir immer wieder gehandelt, aber das wird nichts. Wir sind viel zu kontrovers.“ Ich recherchiere wie die Nominierung und Auswahl der Friedensnobelpreisträger funktioniert. Abgesehen davon, dass das Komitee regelmäßig Initiativen für nukleare Abrüstung auszeichnet, sehe ich keinen Anhaltspunkt für ICAN. Damals gibt es viel präsentere und etabliertere Akteur*innen wie z.B. die EU-Außenbeauftragte und die Verhandler*innen des Iranabkommens (JCPOA). ICAN? Zu umstritten; zu oft in der linken Ecke verortet; zu langfristiges Anliegen. Und wer kennt uns überhaupt? Zu dem Zeitpunkt hat ICAN als zivilgesellschaftliches Bündnis zwar maßgeblich darauf hingewirkt, dass im Sommer 2017 der „UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen“ verabschiedet wurde. Aber das Ereignis ist zumindest in der deutschen Presse durch die zeitgleich stattfindenden G20-Gipfel in Hamburg weitestgehend unbeachtet geblieben. Advocacy-Arbeit für nukleare Abrüstung und ICAN’s Einsatz für eine internationale Ächtung von Atomwaffen ist mühseliges Klinkenputzen: Sowohl bei Abgeordneten als auch bei Journalist*innen. Damit ist das Thema Friedensnobelpreis für mich und Sascha durch.

Hiroshima-Überlebende und ICAN-Campaignerin Setsuko Thurlow hält eine Rede vor der UN 2017

Nicht so für Gregor Enste und seine Teammitarbeiterin Stephanie Mendes-Candido von der Böll-Stiftung. Sie drängen hartnäckig darauf, dass ich für den Tag der Verkündung des Friedensnobelpreises am 6. Oktober Sim-Karten für Pressehandys besorge (hatten wir bis dahin nicht, brauchten wir auch nicht). Okay, wer unsere Projekte fördert, für den besorge ich auch Pressehandys. Als nächstes drängten sie darauf, dass wir uns die Verkündung gemeinsam anschauen und boten uns für den Ernstfall die Möglichkeit, im Haus der Heinrich-Böll-Stiftung eine Pressekonferenz zu organisieren. Der ICAN-Vorstand und das kleine Büroteam empfanden das Vorgehen als komplett überzogen. Wir hatten mit unseren begrenzten Kapazitäten doch besseres zu tun, als ein Ereignis vorzubereiten, das nicht eintritt!

Daher wurden die zwei Studierenden des Kernteams (ich als Vertreterin des Büros und Vorstandsmitglied Felix Werdermann) auserkoren unseren Morgen in der Böll-Stiftung zu verbringen. Alle anderen waren in ihren Hautberufen eingebunden.

6. Oktober 2017: Auf dem Weg nach Berlin Mitte zur Böll-Stiftung. Mein Plan: Ein kurzer Stopp in der Stiftung und dann ein produktiver Tag in der Bibliothek. Die Masterarbeit vorbereiten. Mit Kommilitonen in der Mensa essen.

Ca. 10:30 Uhr: Ankommen in der Böll-Stiftung: Hilfe, es gibt sogar Schnittchen. Sie haben Schnittchen vorbereitet. Wer soll das essen? Nun gut, dann brauchen sich die Kolleg*innen hier heute kein Mittagessen holen.

Der Livestream wird aufgerufen und wir warten darauf, dass das Nobelpreis-Komitee auftaucht. Ich bin neugierig, wer es nun wird. Frage mich, ob die Medien richtig liegen. Aber eigentlich will ich nur in die Bibliothek und mein Uni-Pensum abarbeiten.

Die Verkündung beginnt. Alles ist so tragend und dann der Moment: „…goes to…the International Campaign to Abolish ….“. – Oh, mein Gott.

Ich erinnere mich, wie Berit Reiss-Andersen die Worte ausspricht. Und dann erstmal an nichts. Als nächstes sitze ich in einem Nebenzimmer und aktiviere die Pressehandys. Nebenher schaue ich auf mein privates Telefon und sehe die Push-Meldung: „Friedensnobelpreis geht an ICAN“ und denke: Das. Sind. Wir.

Der erste Anruf geht ein: Ich stammele mir ein Statement zu recht. Der nächste Anrufer erhält eine flüssigere Antwort. Beim dritten koordiniere ich die Anfragen zwischen mir und den Mitgliedern des Vorstands. Wir priorisieren und verweisen – Danke an die Raumreservierung – auf die Pressekonferenz am Nachmittag.

Unter Kommunikationsexperten kennt man die Methode „Elevator Pitch“: Fasse dein Anliegen so zusammen, dass du es einer fremden Person auch in einer kurzen Fahrstuhlfahrt darlegen kannst. Mein Eingangsstatement zur Pressekonferenz besprechen wir auch auf einer Fahrstuhlfahrt. Mein bisher einziger und wahrscheinlich nicht zu toppender Elevator Pitch. Und dann geht es auch schon los. Journalist*innen melden sich, ich rufe sie auf, versuche den Überblick zu behalten und die Fragen an die Vorstandsmitglieder von ICAN Deutschland, Sascha und Xanthe, zu dirigieren.

Pressekonferenz von ICAN und Böll-Stiftung zum Friedensnobelpreis 2017

Die Situation ist absurd. Denn diese prestigeträchtige Auszeichnung kann nicht widerspiegeln wie die tägliche Arbeit von ICAN aussieht. Ein internationales Netzwerk von Oslo bis Okinawa. Aber am Ende doch nur ein paar Menschen, die seit Jahren daran glauben, dass eine andere internationale Politik möglich ist. Sie glauben daran und sie gehen es an – mit Strategie, Witz, Humor, Kreativität, Sachverstand, langen Nächten, schäbigen oder gar keinen Büros und viel, viel Durchhaltevermögen. Der Preis ist Ehrung für Sie alle und ein Signal an die, die versuchen nukleare Abrüstung als irrational und unrealistisch kleinzureden. Durch den Friedensnobelpreis muss sich das sicherheitspolitische Establishment mit den Akteur*innen und der Argumentation von ICAN auseinandersetzen.

Doch all das kann auch noch ein bisschen warten. Denn den Tag der Verkündung lassen wir bei gutem Essen (Schnittchen alle; Mensa zu) und ein paar Wochen später mit einer großen Party im Berliner Club Mensch Meier – samt Liveschalte zur feierlichen Verleihung nach Oslo – ausklingen.

Meine Masterarbeit ist auch irgendwann fertig geworden. Aber gelernt habe ich in den Monaten, schließlich Jahren, mit ICAN mehr – und mich immer wieder gefragt, wann man so viel politischen Weitblick hat, einen Friedensnobelpreis vorauszusehen.

Anne Balzer hat von März 2017 bis Mai 2018 den ehrenamtlichen Vorstand von ICAN Deutschland als Studentische Hilfskraft unterstützt. Von 2018 – 2023 war sie als Referentin für Bildungs- Netzwerk und Pressearbeit beschäftigt.

 

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