Die Jahre vor dem Vertrag

von: Xanthe Hall

Der Fokus liegt oft auf dem Jahr 2017, wenn man über die Geschichte von ICAN spricht. Aber der Prozess, der zu den Verhandlungen des Atomwaffenverbotsvertrages führte, war sieben Jahre lang und wurde von ICAN nicht nur begleitet, sondern maßgeblich gestaltet. Und das hat Spaß gemacht.

Die internationale Kampagne wurde zwar 2007 gegründet, aber erst 2010 gab es die ersten Diskussionen mit Staaten über den Weg zum Atomwaffenverbot. Beim damaligen IPPNW-Weltkongress in Basel gab es ein informelles Treffen mit ICAN, dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und Regierungsvertreter*innen der Schweiz und Norwegens. Ich war auch dabei. Die damalige norwegische Regierung unterstützte ICAN Norwegen finanziell und interessierte sich für die internationale Kampagne. Auch die Schweiz war interessiert.

Es wurde beschlossen, die humanitären Folgen – wie bei der Landminenkampagne – in den Mittelpunkt des Prozesses für ein Atomwaffenverbot zu stellen. Um eine “kritische Masse” zu bilden, sollte ICAN vor allem in denjenigen Ländern eine Kampagne aufbauen, in denen die Regierungen ein Verbot von Atomwaffen unterstützten: in den etablierten atomwaffenfreien Zonen der Welt, d.h. hauptsächlich im Globalen Süden.

Von 2012 bis 2016 kam eine Gruppe von Staaten unter dem Titel “Humanitäre Initiative” zusammen. Die Schweiz führte diese damals 16 Staaten[i] an und gab eine gemeinsame Erklärung bei der NPT PrepCom 2012 ab, der Vorbereitungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags. Diese und alle folgenden Erklärungen auf den Konferenzen der Vereinten Nationen enthielten einen Schlüsselsatz: Atomwaffen dürfen unter keinen Umständen wieder eingesetzt werden.

ICAN Proteste vor der australischen Botschaft 2015

Jedes Jahr setzten wir als ICAN-Campaigner*innen unsere Regierungen unter Druck, diese Erklärung zu unterzeichnen. Ich kann mich gut erinnern, bei einem Empfang in der UNO mit dem damaligen Abrüstungsbotschafter Deutschlands darüber gesprochen zu haben. Er meinte zu mir, wenn die Worte “under any circumstances” entfernt würden, könne Deutschland unterzeichnen. Er hat damit das Thema verfehlt.

Es folgten die drei Staatenkonferenzen zu den humanitären Folgen von Atomwaffen 2013 und 2014. ICAN war immer eng in den Vorbereitungen und der Durchführung der Konferenzen eingebunden. Im März 2013 fand in Oslo vor der Staatenkonferenz das allererste zivilgesellschaftliche Forum statt. Campaigner*innen aus aller Welt versammelten in einer riesigen Halle und durften tolle Speaker*innen hören, u.a. den US-amerikanischen Schauspieler Martin Sheen, der öfters an Sitzblockaden gegen Atomwaffen teilgenommen hatte. Es folgte eine legendäre Party – das wurde dann ICAN’s Trademark bei allen weiteren Treffen – wo Campaigner*innen, Referent*innen und Staatenvertreter*innen feierten und tanzten. Als die Staatenkonferenz am nächsten Tag startete, stand die Jugendorganisation BANg (Ban All Nukes generation) mit einem großen Banner vor dem Kongresszentrum: “Thank you for caring”. Der damalige Außenminister Norwegens, Espen Barth Eide, freute sich sichtlich.

Auch die Konferenz in Nayarit hatte viele Highlights. Am Ende des ersten Tages kamen wir aus dem Konferenzsaal und wurden wieder von BANg begrüßt, mit dem damals beliebten Lied “Happy” von Pharrell Williams, roten Rosen und einem großen Banner. Am zweiten Tag hatte die Jugendgruppe noch was Aufregenderes vorbereitet: Die ganze Konferenz wurde zum Strand geleitet und beobachtete eine Fallschirmspringerin, die mit einem Banner mit der Aufschrift “Ban Nukes” aus einem Flugzeug sprang und direkt bei uns auf dem Strand landete. Am Abend im Dunkeln tobten wir Campaigner*innen in den hohen, warmen Wellen des Pazifiks. Es war einfach himmlisch.

In Wien im Dezember 2014 wurden wir vor der Konferenz vom IKRK mit einer simulierten Prüfung der radioaktiven Kontamination begrüßt. Im Foyer stand ein zwei Meter großes Wiesel. Denn “Wildfire”, ein anonymer satirischer Campaigner, wollte das Verhalten von den Staaten parodieren, die sich wie Wiesel vor ihrer Verantwortung und ihrer Verpflichtung unter Artikel VI des NVV drückten. Das sind vor allem alle sogenannte “umbrella states”, die Empfängerstaaten der “extended deterrence” der USA. Am Schluss der Konferenz lud der österreichische Botschafter Alexander Kmentt alle Staaten ein, sich dem “Humanitarian Pledge” anzuschließen, welcher alle Unterzeichnerstaaten verpflichtete, die “Völkerrechtslücke” zu schließen; in anderen Worten: Atomwaffen zu verbieten.

Am Rande einer Konferenz in Berlin hatte ich ein Gespräch mit einer Diplomatin aus Mexiko. Sie erklärte mir den Prozess, den sie und andere aus den Verhandlungen über Streubomben und den Arms Trade Treaty kannten. Wichtig sei, eine Checkliste abzuhaken, um so viele Staaten wie möglich dabei zu haben. Man müsse z.B. versuchen, in Rahmen des Nichtverbreitungsvertrags weiter zu kommen – und zu scheitern – bevor der Prozess weitergehen könnte. Genau das ist dann 2015 geschehen. Die NVV-Mitgliedsstaaten konnten sich bei der Überprüfungskonferenz nicht einigen, obwohl 159 Staaten sich der Humanitären Erklärung angeschlossen hatten.

Kampfabstimmung in Genf 2016

Das Resultat war eine ergebnisoffene UN-Arbeitsgruppe (OEWG) 2016. Die UN-Vollversammlung verabschiedete 2015 diese Arbeitsgruppe, die sich 2016 mit juristischen Maßnahmen für nukleare Abrüstung auseinandersetzen sollte. Im August 2016 war ich bei der OEWG. Die Arbeit sollte bis zum 19. August abgeschlossen werden und wir hatten bereits unseren Flug um 20:55 von Genf zurück nach Berlin gebucht. Es gab aber keine Einigung und es wurde entschieden, die Uhr “anzuhalten”. Alle sollten bleiben, bis ein Ergebnis erzielt wird. Schnell buchten wir unseren Flug um und suchten eine neue Unterkunft. Die Dolmetscher*innen machten Feierabend und die Arbeitsgruppe (ca. 300 Menschen) musste den Raum wechseln. Wir quetschten uns in einen anderen, viel kleineren Raum, in dem keine elektronische Abstimmung möglich war. Dann begann eine Kampfabstimmung, geführt von Australien. Aber die atomwaffenfreien Staaten bildeten nun die Mehrheit der UN-Staaten, sodass die Atomwaffenstaaten und ihre Verbündeten verloren. Die Empfehlung der Arbeitsgruppe an die UN lautete: Es sollen Verhandlungen über das Verbot von Atomwaffen aufgenommen werden.

Abstimmungsergebnis der Resolution L.41

Der ‚Moment ohne Wiederkehr‘ wurde am 27. Oktober 2016 erreicht. Die Abstimmung der Resolution L.41 “Taking forward multilateral nuclear disarmament negotiations” erfolgte im Ersten Ausschuss der Vollversammlung. Vorher hatten wir mit jeder und jedem Botschafter*in geredet, um sicher zu gehen, dass die Resolution verabschiedet werden würde. Manche standen kurz vor der Abstimmung auf und dachten, es wäre eine gute Zeit die Blase zu leeren, statt sich dafür oder dagegen entscheiden zu müssen. Denn der Druck vor allem auf kleine Staaten war enorm, nicht für die Resolution zu stimmen. Und trotzdem: die Vereinten Nationen beschlossen, für das Jahr 2017 eine Konferenz zur Verhandlung eines Atomwaffenverbots einzuberufen.

Der Rest ist Geschichte.

Xanthe Hall ist Mitbegründerin und ehemaliger Geschäftsführender Vorstand von ICAN Deutschland.

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[i]   Ägypten, Chile, Costa Rica, Dänemark, der Heilige Stuhl, Indonesien, Irland, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Nigeria, Norwegen, die Philippinen, Südafrika und die Schweiz.